Die Einladung

Einige standen in einer Schlange, andere in Grüppchen, ein Teil vor den Regalen mit den Sonderangeboten, ich mittendrin. Stille um mich herum, Leute mit starren Gesichtern, ausdruckslos wie ich selbst. Aber ich konnte es mir, wie die meisten hier, nicht leisten, einen Fehler zu machen.

 

Ich stellte mich in die Reihe derer, die vor dem Schokoladenagenten auf ihren Anteil warteten.

«Ausgabe in Frage gestellt.»

«Was soll das heißen?»

«Ihr Schokoladenlimit für diesen Monat war letzten Sonntag um null Uhr erreicht.»

«Ich will sie gar nicht beim Streaming essen. Ich möchte backen, nicht für mich, für meinen Besuch.»

«Sie können Ihr Limit jederzeit erhöhen. Bestätigen Sie zuvor den Gefahrenhinweis zur Aufhebung der laufenden Beschränkung. Aktivieren Sie die 2031ShopApp und sagen Sie ja.»

 

Ich fummelte an meinem Smartphone herum. Der Herr hinter mir raunzte mich an. «Los doch! Andere möchten auch noch einkaufen!»

«Ja, ja.»

«Haben Sie die Risikoanalyse in Relation zu Ihrem aktuellen Körpergewicht verstanden?»

«Ja, ja, ja, hab’s kapiert. Kann ich jetzt die Schokolade haben?»

«Ihre Antwort ist nicht relevant.»

«Na gut ...»

«Ihre Antwort ist inakzeptabel.»

 

Ein Mädchen zupfte an meiner Jacke. «Du musst ja sagen.»

Ich lächelte die Kleine an. Die Mutter sprang mir fast ins Gesicht. «Hören Sie auf zu lächeln, bevor Sie an der Kasse stehen! Ist das nötig?! Vor dem Kind?»

 

Verständnisloses Kopfschütteln der Anderen, Verachtung, beklommenes Schweigen.

 

Umgehend reagierte der ShopBot. «Sie benötigen Kinderkleidung? Wir haben derzeit keine Kinderkleidung im Angebot, vernetzen Sie aber gern mit unseren Vertragspartnern.»

Jemand fand, ich wäre eine verantwortungslose Person. Nun müssten alle um mich herum ihre Warenkörbe prüfen. Unnötige Zeitverschwen- dung. «Sie benötigen einen Wecker? Nutzen Sie unsere ...» Ich schlich mich davon. Schokolade hatte ich immer noch nicht. Ich musste vor- sichtiger sein. Um die Gruppe vor dem minütlich wechselnden Kostenlos-Sortiment machte ich einen großen Bogen. Mit einer weiteren Unachtsamkeit meinerseits provozierte ich vermutlich eine Mutation der Nulltarif-Jäger zu einer Nahkampftruppe. Nervös begab ich mich zum Weinregal. Hier durfte ich in keinem Fall versagen. Irgendetwas musste ich meinem Besuch schließlich anbieten.

 

Eine schwierige Entscheidung. Sollte ich ein Fake-Profil mit den wesentlichen Informationen zu meinen Gästen erstellen? Die unerlässliche Einhaltung der Konsumenten-Datenschutz- Norm würde mich vor ein neues Problem stellen, das ich nicht brauchen konnte. Die Nutzung meines eigenen Profils? Ein Wagnis! Mein Alkoholkonsum pro Woche in Zusammenhang mit der Kündigung im Fitnesspark. Schlecht. Wäre eine eigenständige Auswahl aus den vorhandenen Weinen sinnvoll? Mit meinen Kenntnissen? Lieber nicht. Also doch die Errungenschaften der Technik nutzen. Ich hielt den QR-Scanner meines Smartphones vor das Wein- regal.

 

«Wir stellen Ihnen umgehend eine Auswahl zusammen, die den geschätzten Durchschnittsgeschmack aller in der gültigen Mündigkeitsmatrix erfassten Bürger widerspiegelt.» Sehr gut. Wenigstens das klappte. Allerdings hatte ich zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Mit der 2031VisitApp rief ich meine Freunde kurzerhand zusammen.

 

«Mega. Wein ist immer gut.»

«Hätte eh abgesagt. Kann am Nachmittag nicht.»

«Wo bleibt die Fitness? Wein passt da nicht.»

«Schoko auch nicht.»

«Wieso Schoko? Ich dachte Hirsekuchen.»

Damit entbrannte eine heiße Diskussion zu der Einladung an sich. Alle Versuche, die erhitzten Gemüter zu besänftigen, scheiterten. Ein Videocall schien unerlässlich.

 

Wir einigten uns schließlich auf einen veganen Wein, dazu Käsekräcker, doppelt frittierte Chips und Laugengebäck. Heute. 19.30 Uhr. Zumindest musste ich keine großartigen Vorbereitungen treffen. Ein paar Dekoartikel würde ich gleich hier noch mitnehmen.

 

Die Mutter mit dem Kind kam vorbei. Dies- mal riss ich mich zusammen, um ein erneutes Lächeln zu vermeiden. Ich konzentrierte mich wieder auf meinen Einkauf. Meine Idee, selbst etwas zu machen, legte ich auf Eis, das ich eigentlich auch noch bräuchte, falls jemand Nach- tisch wünschte. Ich hetzte hin und her, zwischen Tiefkühlkost, der Snackecke, den Backzutaten, den Dekoartikeln. Wenn ich doch nur etwas strukturierter planen könnte ... Organisiert oder nicht, ich musste mein Budget im Auge behalten. Wo war denn noch die 2031HomePayApp? Ich sollte den ganzen Kram mal aufräumen, verschieben, deinstallieren, upgraden. Am besten machte ich das sofort. Sonst gäbe das doch wieder nichts. Apps, Widgets, Wetter mehrfach, das meiste flüssiger als flüssig. Flüssig! Flüssig? Puh. Genug Tagesbudget vorhanden. Also weiter.

 

Während ich hektisch durch den Supermarkt rannte, liefen diverse Updates. Ich packte Streudeko in den Warenkorb: Brezeln und Efeu. Oder sollte ich doch lieber die Kunststoffranke einpacken? Was käme günstiger? Mein Smartphone lief durch die ganzen Aktualisierungen ein wenig langsamer. Dennoch erhielt ich wenige Sekunden später einen Vergleich der Vor- und Nachteile, monetär sowie rational bewertet, in meinem Download-Ordner.

Ich sah auf die Uhr. Zeit, mich zur Kasse zu begeben. Erneut kontrollierte ich meine virtuellen Einkäufe, säuberlich gespeichert. Maskenhafte Mienen, vor mir, hinter mir, neben mir. Eine Neonröhre unter der Decke flimmerte.

 

«Los doch. Träumen Sie?»

«Entschuldigung.» Der autonome Scanner las meine Daten ein. Artikelnummer für Artikelnummer wurde auf Verfügbarkeit geprüft. Voll- ständig. Abgleich Tagesetat mit Bankdaten. Zugriff erfolgt. Verifizierung erledigt. Genehmigt.

 

Mittlerweile lagen alle Artikel in meinem physikalischen Einkaufswagen.

 

«Wie zahlen Sie, SmileToPay oder ScanToCredit?»

Ich lächelte. Nichts tat sich. Die anderen Kunden wurden unruhig. Auch sie hatten ihre Timeline einzuhalten. Meine Mundwinkel verzerrten sich zu einer bizarren Form von unten nach oben, quer durchs ganze Gesicht. Keine Bezahlaktion. Leicht öffnete ich den Mund, spannte die Lippen, zeigte einen Teil meiner Zähne, versuchte, die Augen mitlächeln zu lassen. Endlich. Die Kontrollleuchten blinkten grün. Nur noch einen Moment bis zum Abschluss der Transaktion. Es folgte eine aufwändige Einhundertachtziggradwende vor der Kassenschranke. Der Einkaufswagen folgte einer digitalen Rückabwicklungsschiene.

 

Schüchtern zuckte ich mit den Schultern. Mit gesenktem Blick sagte ich leise: «Akku leer.»