Kryontopia

Eine persönliche Leidenschaft. Keine Saison ohne Formel 1. Davon muss ich mich nun verabschieden. Aber was soll’s? Nico Rosberg hat schließlich auch «Tschüss» gesagt. Es geht leider nicht anders. Die Gipsköpfe dieser Welt haben es tatsächlich geschafft: Ich will nicht mehr, habe keine Lust, Bestandteil der alltäglichen Idiotie zu sein. Die Tragödie auf dem Weihnachtsmarkt hat mir den letzten Rest gegeben.

 

Die weißen Kittel lassen mich kalt. Leute, die solche Berufskleidung tragen, wissen ganz genau, was sie tun. Davon muss ich einfach ausgehen. Hoffentlich friere ich nicht, wenn sie mein Blut gegen die -125°C frostige Lösung austauschen. Ein wenig skeptisch bin ich schon. Immerhin werde ich die nächsten 33 Jahre in flüssigem Stickstoff verbringen. Bei minus 200°C wird jeder Gedanke an die Pelzmäntel meiner Oma lächerlich.

 

«Sind Sie bereit?»

Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Aber das kann ich der weißen Macht schlecht sagen. Zumal ich längst auf dem Tisch liege.

«Sind Sie bereit?»

Monatelang hatte ich überlegt.

«Sind Sie ...»

«Ja.»

Bleibt zu hoffen, dass dies die richtige Antwort ist.

 

Finsternis. Schwerelos im Nichts. Funkstille. Tod. Tot? Ich lebe nicht, ich denke. Bomben und gegenseitige Beschuldigungen sind genauso unerträglich wie Kirchen, in denen man nicht beten darf. Musikveranstaltungen mutieren zu Todesfallen, Einkaufszentren verwandeln sich in Leichenhäuser. Selbstmörderische Zugreisen verbieten es, Kinder mitzunehmen, denn Reisende, die nach Belieben mit einer Axt um sich schlagen, sind zur Normalität geworden. Politiker dürfen den Mund nicht aufmachen. Kritiker erst Recht nicht, weil dann jene Politiker doch zu Wort kommen.

 

Ich öffne die Augen. Sie scheinen intakt zu sein. Sachen habe ich nicht an. Nackt bin ich der Zukunft, die jetzt Gegenwart heißt, ausgeliefert. Aber ich wollte es ja so. Irgendwo werden sie bestimmt Kleidung für mich haben. Ich stehe einfach auf und sehe nach. Meine Muskulatur ist überraschend funktionsfähig. Sie müssen also etwas mit mir gemacht haben als ich im frostigen Tiefschlaf lag. Sobald ich etwas zum Anziehen gefunden habe, werde ich mich in die Geborgenheit einer bunten Gesellschaft begeben, in der es weder schwarz noch weiß gibt. Einen Ausgang aus meiner fensterlosen Kammer entdecke ich nicht. Ich setze mich auf meine Liege und warte. Bestimmt werde ich abgeholt. Sie haben mich schließlich wieder aufgetaut. Ich freue mich auf ein neidloses Miteinander. Die Menschheit wird jede Menge gelernt haben. Niemand wird mehr in Menschenmengen rasen, weder vollkommene Spinner noch sonst wer. Es ist gar nicht möglich, denn Verkehr wurde sicherlich abgeschafft. 2017 war man zumindest auf dem besten Weg dahin.

 

Eine grelle Sirene ertönt. Die Frequenz ist unerträglich, der Ton wird lauter. Ich presse die Handflächen gegen meine Ohren. Nutzlos. Mein Trommelfell schmerzt. Ich drehe mich weg. Der grässliche Ton verstummt.

 

«Sie sind also wach.» Er war durch eine übergangslose Schiebetür eingetreten. «Wir haben Sie wunschgemäß im Jahr 2050 entkryonisiert. Ab jetzt werden Sie unseren Wünschen entsprechen. Wir erwarten widerstandslosen Gehorsam. Mit dem Ton haben Sie Bekanntschaft gemacht. Eine weitere Kommunikation ist überflüssig.»

«Bekomme ich keine Kleidung? Woher soll ich wissen, was ich tun soll? Werde ich hier nicht in Freiheit leben? Ich habe von einer zufriedenen Gesellschaft geträumt.»

«Das ist Ihr persönlicher Codepass. Anweisungen finden Sie in der Cloud, die von jedem Gegenstand aus erreichbar ist. Legen Sie dazu den Codepass auf die Oberfläche und halten Sie mindestens 3 Sekunden lang Ihren Daumen auf das Identifikationsfeld. Sollten Sie sich nicht innerhalb der nächsten 12,5893 Minuten in Ihrer Cloud angemeldet haben, wird Ihr Codepass ungültig. Damit gefährden Sie Ihre Versorgung.»

«Ich brauche etwas anzuziehen.»

«Kommen Sie mit mir nach draußen. Sie brauchen nichts außer Ihrer Cloud.»

Wortlos folge ich ihm. Mein Anweiser verlässt mich in einer gläsernen Kabine, die offenbar auf ihn gewartet hat. Ich bin fassungslos, ungeschützt, entblößt. Zudem soll ich irgendwelche Regeln strengstens befolgen. Warum droht man mir? Andererseits hat mein Erstkontakt auch von «Versorgung» geredet. Möglicherweise sind die Anweisungen in der Cloud gar nicht schlecht. Ich habe mir immer schon mehr Unterstützung im öffentlichen Leben gewünscht. Mutmaßungen bringen mich nicht weiter. Ich logge mich einfach ein. Dann sehe ich, was passiert. Vielleicht erfahre ich auch, wo sich alle Anderen aufhalten. Ob sie ebenfalls nackt sind?

 

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